Rechte und Schutz der begünstigten Behinderten
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Behindertenvertretung (Grundlagen)
Behindertenvertretung (Praxis)
Für den Inhalt verantwortlich:
Bernhard Hampl
Um die Bedürfnisse von und den Umgang mit Behinderten zu verstehen, sei ein kurzer historischer Rückblick erlaubt, wie Behinderung und Behinderte von der jeweiligen Gesellschaft gesehen wurden.
Das Bild des Behinderten wird durch ein Abweichen von einer Norm gekennzeichnet. Ihm fehlt etwas (ein Bein, das Sehvermögen, usw.), er hat etwas zu viel (einen Auswuchs, Phantasie, usw.) oder etwas funktioniert nicht richtig (Krankheiten aller Arten). Die Andersartigkeit des Behinderten wird von der Gesellschaft im allgemeinen - wie andere Fremdartigkeiten auch - negativ bewertet. Und man fragt nach ihrem Grund. Das ist eine Frage nach der Ursache oder, theologisch ausgedrückt, eine Frage nach der Schuld.
Hier kann man einerseits die Ursache, die Schuld, beim Behinderten sehen; oder andererseits bei Gott oder den Göttern. Beides ist historisch belegt.
[Quelle: Walter Blumberger: Grundlagen beruflicher Rehabilitation und Prävention. Unveröffentlichtes Vorlesungsmanuskript. SS 2004. Universität Wien. AG Sonder- und Heilpädagogik]
Von Echnaton, einem Pharao der 18. Dynastie (13. Jahrhundert v. Chr.), der auch als Verfasser des „Aton Hymnus“, des Großen Sonnengesanges, gilt, ist folgender Ausspruch überliefert:
Die Erschaffung des Menschen - auch des Lahmen und Blinden - liegt im Belieben Gottes. Somit steht es keinem Menschen zu, dessen Werk zu verhöhnen.
Hier liegt die Verantwortung für eine Behinderung bei Gott, und der Mensch hat sich seinem Ratschluß zu beugen und nicht nach einem Grund, nach einer Schuld, zu suchen. Tatsächlich gab es im alten Ägypten Behinderte, die geachtet waren und hohe Stellungen bekleideten. In der Nähe der Cheops-Pyramide wurde das prachtvolle Grab eines Zwerges gefunden, der ca. 2300 v. Chr. gestorben ist. Er bekleidete ein hohes Hofamt und erreichte ein hohes Alter.
[Quelle: Walter Blumberger: Grundlagen beruflicher Rehabilitation und Prävention. Unveröffentlichtes Vorlesungsmanuskript. SS 2004. Universität Wien. AG Sonder- und Heilpädagogik]
Im alten Griechenland, das ähnlich wie viele moderne Gesellschaften dem Ideal der körperlichen und geistigen Tüchtigkeit anhing, wurden Behinderte gering geachtet, obwohl es mit Hephaistos sogar einen behinderten Gott und mit Homer einen blinden Seher gab. Platon empfiehlt im „Staat“, verkrüppelte Kinder verhungern zu lassen. In Sparta war sogar durch Gesetz vorgeschrieben, behinderte Kinder umzubringen.
Im antiken Rom war man Behinderungen gegenüber einerseits tolerant. Es gab zumindest drei behinderte Kaiser: Caesar (Epilepsie), Augustus (verkrüppelt durch Kinderlähmung) und Claudius (Sprachfehler). Andererseits wurden Behinderte zur Volksbelustigung vorgeführt. Seneca empfiehlt (wie Platon), schwächliche und mißgestaltete Kinder aus der Welt zu schaffen.
[Quelle: Walter Blumberger:
Grundlagen beruflicher Rehabilitation und Prävention.
Unveröffentlichtes Vorlesungsmanuskript. SS 2004. Universität
Wien. AG Sonder- und Heilpädagogik]
Die soziale Stellung Behinderter in der Antike beleuchtet auch ein Artikel von Herbert Graßl, „Behinderte in der Antike“ in Tyche 1 (1986) 118-126, in dem auch auf die unterschiedliche Sichtweise je nach der Ursache der Behinderung verwiesen wird. Auf Grund militärischer Ereignisse Behinderte, also Kriegsinvalide, waren oft hochangesehen. Von Geburt an oder krankheitshalber Behinderte, also Zivilinvalide im heutigen Sprachgebrauch, häufig verachtet.
Das Christentum brachte eine Wende in der Auffassung von Behinderungen. Die polare Betrachtung der Welt, hier gut, da böse, hier Gott, da der Teufel, hatte eine für Behinderte fatale Nebenwirkung: Der Mensch, nach Gen. 1,26 geschaffen als Ebenbild Gottes, konnte nicht mißgestaltet oder mißgebildet sein. Daher wurden physisch oder psychisch Mißgebildete als dem Reich des Bösen zugehörig betrachtet. Mißgebildete Kinder hielt man für vom Teufel unterschobene „Wechselbälge“.
Typisch für die Einstellung des Christentums ist die Sichtweise eines bedeutenden Arztes und Philosophen, Theophrast von Hohenheim (Paracelsus) (1493 - 1541). Seine „Signaturenlehre“ sieht den Menschen als Ganzes im Kontext des Universums. Die große Welt, der Makrokosmos mit Gott und dem Teufel, der Schöpfung und dem Menschen mittendrin, spiegelt sich in der kleinen Welt des Menschen, im Mikrokosmos, wieder. Auch wenn der Makrokosmos größtenteils unsichtbar ist und das Geheimnis Gottes bleibt, prägt er sich doch auch dem Mikrokosmos ein, da die Welt, der Kosmos, ja als Ganzes gedacht wird.
„Auch die Monstra der Menschen, die von Menschen geboren werden, bleiben gar selten lebendig. Je wunderbarer und schrecklicher sie sind, desto schneller und früher erfolgt der Tod, so daß gemeiniglich keines über den dritten Tag lebendig bleibt unter den Menschen. Sie werden dann an heimliche und verborgene Orte getragen und von allen Menschen abgesondert. Man soll wissen, daß Gott ein Greuel und Mißfallen an den Monstra hat. Keines kann selig werden, da sie nicht das Bildnis Gottes tragen. Dabei ist nichts anderes zu verstehen, nur das, daß sie der Teufel so geformt hat und daß sie mehr zum Dienste des Teufels als Gottes geboren sind. Denn von keinem Monstrum kommt ein gutes Werk, sondern alles Übel, alle Missetaten und die Tücke des Teufels, dessen Feldzeichen sie tragen. Denn in gleicher Weise wie der Henker seine Kinder zeichnet, indem er ihnen die Ohren abschneidet, die Augen aussticht, die Backen durchbrennt oder die Finger, Hände und den Kopf abhaut, so bezeichnet auch der Teufel seine Kinder durch die Einbildung der Mutter, die sie aus böser Lust, bösen Begierden und bösen Gedanken bei der Empfängnis hat. Daher sind alle Menschen zu fürchten, die ein Glied zuviel oder zu wenig haben oder die sonst ein Glied doppelt haben. Denn dies ist ein Zeichen vom Teufel und ein sicheres Zeichen seiner verborgenen Tücke und Arglist, die von ihm kommen werden.“
[Paracelsus: Über die Natur der Dinge. Erstes
Buch: Über die Entstehung der natürlichen Dinge. Zitiert
nach: Paracelsus: Sämtliche Werke. Dritter Band, S. 226. Hg.:
Bernhard Aschner. Jena 1930.]
Und der zeitgenössische Stich von Augustin Hirschvogel enthält das in Kurzform: „Omne donum perfectum a deo, imperfectum a diabolo.“ - „Jedes Geschenk Gottes ist vollkommen, jedes vom Teufel unvollkommen.“
Was modernen Menschen als Unsinn erscheinen mag, ist immerhin als
Versuch zu werten, die Welt zu enträtseln: Die Spuren des
Makrokosmos im Mikrokosmos, die „Signaturen“, wie
Paracelsus das nennt, hat der Mensch zu lesen, um den Sinn des Ganzen
zu erraten:
„So merk aber, daß die Unsichtigkeit zu Sichtigkeit
kommt, durch das Medium der Corpora.“
Über das Sichtbare wird also versucht, das Unsichtbare zu enträtseln. Ein ähnlicher Versuch eines Zeitgenossen, des Galileio Galilei, Meßbares zu messen und nicht Meßbares meßbar zu machen, wurde übrigens zur Grundlage der modernen Naturwissenschaft, auch der Wissenschaft vom Menschen. Und was sieht man nun an behinderten Menschen, an Krüppeln, Blinden, Lahmen, an Verrückten? Zeichen des Bösen!
Drum sagt Paracelsus: „Hütet Euch vor den Gezeichneten!“
Entsprechend ist die Darstellung von Behinderten. Ein Bild des Flamen Pieter Breughel d. Ä. aus dem Jahre 1568 stellt fünf Krüppel und eine Bettlerin dar. Das Bild stammt aus der Zeit der religiösen Auseinandersetzungen zwischen Katholiken und Protestanten. Für Flandern, also die spanischen Niederlande, waren die Hugenottenkriege eine Zeit der Not, und Kriegsopfer waren allgegenwärtig.
Pieter Breughel d. Ä: Krüppel (1568). Paris, Louvre
Den Krüppeln auf Breughels Bild fehlen Arme oder Beine, ihre Krücken weisen sie als Krüppel aus. An ihrer Bekleidung fallen die angehefteten Fuchsschwänze auf. Der Fuchsschwanz, traditionell in roter Farbe, deutet auf das Böse, den Teufel, hin. Diese Bedeutung hat sich auch heute noch im Ausdruck „fuchsteufelswild“ erhalten. Und tatsächlich sehen einen die fünf Krüppel nicht gerade freundlich an bzw. wenden sich ohnehin vom Betrachter ab. Das „Hütet Euch vor den Gezeichneten“ scheint also in diesem Bild ausgedrückt.
Es ist aber keineswegs so eindimensional zu sehen. An den Krüppeln fallen nicht nur die angehefteten Fuchsschwänze auf. Sie tragen auch seltsame Mützen, die sie als Vertreter der Stände bezeichnen: eine rote Krone aus Pappkarton steht für den König, ein Papierhelm für den Soldaten, ein Barett für den Bürger, eine Mütze für den Bauern und eine Mitra für den Bischof. Die Krüppel stellen also eine Art Totentanz in der Tradition Holbeins dar. So wie der Tod alle Stände dahinrafft, soll das Bild Breughels darstellen, daß wir alle, unabhängig vom Stand, Krüppel und Bettler sind, und alle dem Bösen zum Opfer gefallen sind. Und die Bettlerin mit der Bettelschale, wohl die Mildtätigkeit symbolisierend, wendet sich von den Krüppeln ab.
Und noch etwas fällt auf: Alle Figuren bewegen sich innerhalb einer hohen Mauer. Ein schmaler Ausgang ins Freie ist im Hintergrund zu sehen. Von dort fällt ein wenig Licht auf das düstere Gemälde. Nur einer wendet sich diesem hellen Licht zu. Überraschender Weise nicht der Bischof, sondern der Bauer.
Es soll nicht verschwiegen werden, daß das Bild auch eine andere Deutung zuläßt: In den Hugenottenkriegen standen die aufbegehrenden Protestanten Frankreichs, die sogenannten Hugenotten, den katholischen Vertretern des Königtums gegenüber. Der bedeutendste Heerführer der Krone war der Herzog von Guise. Nun heißt das ähnlich klingende „gueuse“ auf Französisch „Bettlerin“. Das Bild wurde auch als Satire auf den Herzog von Guise gedeutet, der Krüppel in allen Ständen hinterläßt und sich davonschleicht.
Weit entfernt von jeder Möglichkeit zur Interpretation ist hingegen die extreme Sicht von Behinderung, wie sie in den beiden Bildern unten zu sehen ist. Behinderte kosten dem Staat und der Gesellschaft Geld, wie aus dem Inserat ganz links hervorgeht, das ursprünglich aus dem „Völkischen Beobachter“, dem Parteiorgan der Nationalsozialisten, stammt: „Täglich RM 5.50 kostet den Staat ein Erbkranker.“ Schlimm, denn: „Für RM 5.50 kann eine erbgesunde Familie 1 Tag leben!“ Das zweite Bild zeigt die logische Konsequenz daraus. Es wurde im Juni 1938 von der SS im Konzentrationslager Buchenwald aufgenommen. Die hier abgebildeten behinderten Männer werden ihre Ablichtung nicht lange überlebt haben.
Aus: Jakob Graf: Biologie
für Oberstufe und Gymnasium. J. F. Lehmanns Verlag, 1941 |
fotoarchiv.buchenwald.de |
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Moderne Gesellschaften, wie sich seit der Französischen Revolution in Europa ausgebildet haben, haben Menschenrechte definiert, die sich auf alle Menschen, unabhängig von Religion, Alter, Geschlecht, Behinderung, usw. erstrecken. Natürlich sind sie nicht allgemein, wie das schreckliche Bild aus Buchenwald zeigt. Dennoch sind sie zumindest verbal weitgehend anerkannt und durch nationale Verfassungen und durch internationale Verträge abgesichert. Hierin sind moderne Gesellschaften dem Standpunkt des Echnaton ziemlich nahe.
Umgekehrt sind moderne Gesellschaften durch Leistungsdruck und Stärkeideal geprägt. Ein schwaches Mitglied wird oft an den Rand gedrängt und manchmal darüber hinaus. Das wird etwa so formuliert:
Das Wirtschaftsleben ist hart. Ein Krieg, wenn auch mit anderen Mitteln. Jedenfalls nichts für Schwache. Kinder, Kranke und Alte bleiben besser draußen.
In modernen Industriegesellschaften definiert sich der soziale Status direkt oder indirekt über den Status im Erwerbsleben. Menschen, die aus irgendwelchen Gründen von eigener Erwerbsarbeit ausgeschlossen sind, sind daher vom Abgleiten ins gesellschaftliche Nirgendwo bedroht. Insbesondere gilt das für Menschen, denen eine Behinderung das Mithalten im täglichen Konkurrenzkampf erschwert. Daher zielt die gesetzliche Definition von „begünstigten Behinderten“ auch ausdrücklich auf die Minderung der Erwerbsfähigkeit, also die erschwerte Teilnahme am Arbeitsleben ab. Konsequenterweise läuft auch die staatliche Behindertenpolitik darauf hinaus, die Chancen Behinderter am allgemeinen Arbeitsmarkt zu verbessern.
Neben der Befriedigung der existentiellen Bedürfnisse vermittelt die Teilnahme am Arbeitsleben auch soziale Kommunikation und soziale Interaktion. Anerkennung und Leistungsbestätigung durch das soziale Umfeld sind zur Erhaltung der Selbstachtung lebensnotwendig. Ein soziales Korrektiv von Fehlverhalten seitens eines Einzelnen verhindert das Abgleiten in Schrulligkeit oder Isolation.
Da Behinderte naturgemäß im Daseinskampf benachteiligt, nämlich behindert, sind, bedarf es eines Regulativs, um ihre natürlichen Nachteile zu kompensieren. Da marktwirtschaftlich geführte Betriebe ökonomisch aber nicht nationalökonomisch handeln, kann eine solche Kompensation nur durch staatliche oder überstaatliche Regelungen und Übereinkommen erreicht werden.
Das staatliche oder überstaatliche Regulativ bedeutet, die Macht und Ohnmacht einzelner Individuen durch die übergeordnete Macht eines Kollektivs zu ersetzen. Nicht mehr die körperliche und geistige Kraft des Einzelnen soll über seine Lebens- und Daseinsberechtigung entscheiden, sondern die gesetzgebende Kraft des Kollektivs. Erst auf einer höheren Stufe gesellschaftlicher Übereinkunft ist eine freie Entwicklung der Individuen möglich: Nicht jeder muß jederzeit auf der Hut sein, erschlagen zu werden oder sich Nahrung beschaffen zu müssen, sondern kann sich anderen Tätigkeiten widmen, die der Gesellschaft als Ganzes vielleicht nützlicher sind.
Mit der gesellschaftlichen Übereinkunft ist aber ein Verlust an Souveränität des Einzelnen verbunden. Der Starke muß sich damit abfinden, den Schwächeren nicht erschlagen zu dürfen oder ihm seinen Besitz wegnehmen zu können, obwohl er dazu leicht im Stande wäre. Das damit verbundene Unlustgefühl im Verein mit den drohenden Sanktionen der Gesellschaft ist wahrscheinlich ein starker Anreiz, den Schwachen zu verachten und, soweit möglich, die Sanktionen zu umgehen.
Auf einer höheren Ebene, im Verkehr der Staaten und der Unternehmen untereinander, haben sich die archaischen Verhaltensweisen der Frühzeit der Menschen erhalten. In der kapitalistischen Produktionsweise, wie sie sich von Europa ausgehend seit dem Ende des 18. Jahrhunderts herausgebildet hat, hat das Kapital die Rolle übernommen, die in frühen Gesellschaften die Körperstärke oder die effektive Bewaffnung des Einzelnen gespielt haben.
Die Art und Weise, wie in einer globalisierten Welt mit den Schwächeren, umgegangen wird, enthüllt das inhumane Wesen des Kapitals: Man kann es sich gar nicht mehr leisten, auf einen Schwächeren nicht einzutreten. Die Hilfe, die man ihm angedeihen ließe, würde einem selber auf den (wirtschaftlichen) Kopf fallen. - Umgekehrt ergibt sich aber daraus, daß die Schwachen eine große Mehrheit darstellen, schließlich ist nur einer der Stärkste. Da die Schwachen in ihrer Mehrheit aber ebenfalls eine Stärke darstellen, ergibt sich auch für den Starken die Notwendigkeit, die Auswirkungen des Kapitalismus nicht ausufern zu lassen. Im eigenen Interesse: Die Macht trägt dem Keim des Unterganges schon in sich. Die Unterlegenen werden mehr und mehr, und die Summe ihrer Macht wird größer und größer. Kein Reich, keine Diktatur hat ewig gedauert.
„Auch der Krieg dauert nicht ewig. Freilich: Wie viele dauerten länger?“ (Bertolt Brecht)
Zuletzt aktualisiert am 20. September 2017